Working Papers: Collaborative Research Center 1482 – Studies in Human Differentiation

The aim of the Collaborative Research Centre (CRC) is to study a fundamental cultural and social phenomenon: the perpetual categorical differentiation by and of humans, e.g., based on nationality, ethnicity, religion, age, gender, achievement or sexual orientation. Societies thereby accumulate their own ethno-sociologies according to which they can classify their ‘human material’ (Simmel 1908) and assign them their social affiliations. Alongside the sorting work that pertains mainly to the differentiators themselves, human differentiation also refers to the external delimitation of humans from animals and artefacts such as robots.

Below, please find a list of working papers by the CRC, followed by a full-text version:

Indizierung in Zeitschriften: Die Sortierung von Markern zur Kategorie Sloane Ranger

Ray Petri’s “Killer”-Sequence in The Face (March 1985): Ambiguity and Performance

Indizierung im Kontext von Marketing und Lifestyle: Die Glamour Shopping Card als „Ausweis“

Kategorisieren wie auf Facebook: (Un)Sichtbarkeit im Print-Fotomagazin Der Greif (2019)


Indizierung in Zeitschriften: Die Sortierung von Markern zur Kategorie Sloane Ranger

Sabina Fazli (Postdoc)/Oliver Scheiding (PI)

TP 06 Kuratierte Körper

09.01.2023

Zeitschriften begleiten die Entwicklung von neuen Gruppen und Lifestyles und stellen laufend neue Label bereit, die Unterscheidungen zu Kategorien und damit zu benennbaren Clustern von Indizes machen. Ein einschlägiges historisches Beispiel für diese Funktion der Zeitschrift ist die Ausdifferenzierung der Figur des Teenagers als Konsument:in in Zeitschriften wie Seventeen in den 1940ern, aber auch des New Man und New Lad in den 1980ern bzw. 1990ern (z.B. in GQ bzw. Loaded) oder der „Cosmocrats“ in Harpers and Queen (Okt. 2000). Die Entstehung dieser Figuren findet in einem Wechselspiel zwischen Marktforschung, Magazinjournalismus und (Sub-)Kulturen sowie ihren weiteren Medialisierungen statt. Selbst wenn bestimmte Begriffe bereits zirkulieren, so kommt den Magazinen die Aufgabe des Sortierens und Ausstaffierens zu, d.h., der Sicht- und Unterscheidbarmachung mithilfe von Sprache und Dingen, die einer Kategorie zugeordnet werden und diese verfestigen. Die Möglichkeiten des modernen Seitenlayouts stellen visuelle und textuelle Darstellungsformen bereit, in denen diese Ordnungen in festere und lockerere Zusammenhänge gebracht werden können. Im Fall des Sloane Ranger lässt sich dieser Prozess verdichtet in zwei Magazindoppelseiten beobachten, auf denen er zu einer konkreten Figur gerinnt.

Peter Yorks Feature „The Sloane Rangers“ erschien 1975 in der Oktobernummer von Harpers and Queen und legte den Grundstein für den Aufstieg und die Popularisierung des Labels, welcher den Lifestyle einer Gruppe junger weißer Frauen der oberen Mittelschicht in London beschreibt. Durch Prince Charles‘ Heirat mit Diana Spencer erlangte der Sloane Ranger 1981 eine noch größere Bekanntheit, und Lady Di wurde von York in folgenden Publikationen als ‚super Sloane‘ beschrieben. 1982, mit Princess Diana auf dem Cover, veröffentlichte York zusammen mit Ann Barr, einer weiteren Harpers and Queen Redakteurin, das Sloane Ranger Handbook, welches die Figur weiter ausbuchstabiert und das Verb ‚to sloane‘ einführt. Weitere Publikationen folgten: das Official Sloane Ranger Diary (ebenfalls von York und Barr, 1983) und das Sloane Rover Handbook von 1998 (Francesca Findlater), das die Marker des Sloane Ranger von den menschlichen Trägerinnen ablöst und auf Hunde überträgt („The chic guide to the good life for the ‚in‘ pooch“). Seit den 2020ern erlebt der Sloane Ranger durch die Netflix-Serie The Crown ein Revival, zu dem in einem Beitrag im Guardian wieder Peter York als Style-Kommentator und Experte interviewt wurde.[1]

Yorks Beitrag von 1975 bildet den Kern und Ausgangspunkt der weiteren kommerziell erfolgreichen und populären Veröffentlichungen zum Sloane Ranger. Er besteht aus zwei Doppelseiten und vereint Texte und Bilder: Im Fließtext stellt York seine ‚Entdeckung‘ der Sloane Ranger als distinkte Gruppe dar; vier Fotografien auf der ersten Doppelseite zeigen Sloane Ranger in urbanen Settings, die in kurzen Steckbriefen unter den Abbildungen porträtiert werden. Diese Profile sind kursiv gesetzt und enthalten Zitate der porträtierten Frauen in einer Emblem-artigen Kombination, die als Exemplifikationen von Yorks ‚Entdeckungen‘ fungieren. Während diese Text/Bild-Kombinationen in den mehrspaltigen Fließtext eingefügt sind, illustrieren drei weitere Fotografien von Sloane Rangern beim Shopping auf der zweiten Doppelseite eine mehrspaltige Liste, die alle möglichen Vorlieben der Sloane Ranger[2] unter kurzen Überschriften in Aufzählungen zusammenfasst und visuell vom Fließtext absetzen: Die Leser:in erfährt unter anderem, welches die bevorzugten Restaurants und -boutiquen sind, welche Musik Sloane Rangers hören („Early Beatles, Neil Diamond, … Barry White (they think he’s black and funky), …“), wo sie Urlaub machen (“Chalets, villas or relations in Val d’Isère, …”) und welche Zugverbindungen sie aus London aufs Land nehmen („On Fridays: the 16.48 to Cheltenham, …“). Die Aufzählung ist dabei immer hyperspezifisch und erzeugt den Eindruck von Objektivität durch das Aneinanderreihen von ‚Fakten‘. Zusammengehalten werden die Waren und andere Konsumentscheidungen in dieser Liste durch die Konsumentinnen, die in den Fotografien auf dieser Seite (über den Listen) versonnen in Schaufenster und Auslagen blicken. Aus dieser Anordnung entsteht eine mehrdimensionale mediale Erfassung der wiedererkennbaren Figur des Sloane Ranger.

Das von York geschriebene Feature steigt mit einer szenischen Beschreibung ein, die auf den Gegenstand hinführt und den Sprecher, York selbst, als aufmerksamen Beobachter einführt: „Two girls get into the Tube at South Ken[sington] and sit opposite. They’re not together. They both wear: Gucci shoes (navy); a navy blue skirt, navy tights, a printed shirt (Cacharel, or Jaeger?), a jacket (one has a velvet blazer, the other a wool blazer), a Hermès scarf knotted under the chin (one’s is knotted on the point of the chin), a small patent shoulder bag on a gilt chain. Their hair is straightish, shoulder-length, pushed back. One has a velvet headband. […] If this is a sisterhood I want to know how it is acknowledged. I imagine myself leaning over and saying, ‘Look Caroline, there’s Caroline.’ I imagine both saying, ‘Really, where?’ They are Sloane Rangers […].” Yorks Blick vermag es hier eine Kategorie anhand ihrer Indizes zu entziffern, die ihren Angehörigen selbst nicht bewusst ist. Die Perspektive eines Beobachters, der autoritativ über andere spricht – eines „urban taxonomist“, wie York sich selbst nennt[3] – deckt auf, benennt und sortiert, was die Beobachteten selbst nicht erkennen: ihre vermeintlich individuellen Vorlieben, „It’s just me“ (so eine der porträtierten Frauen), folgen tatsächlich dem kollektiven Code einer „sisterhood“.

Yorks Feature entwirft an diese Szene anschließend eine Geschichte des Sloane Ranger und verwebt diese mit einer ‚idealen‘ Sloane Biografie. Auf diesen zwei Zeitachsen, einer idealen individuell/biografischen und einer kulturgeschichtlichen konstruiert York die Entstehung des Sloane-Stils aus dem Ende aristokratischer Konventionen (1958 endet die Tradition des Debütantinnenballs als „ladyfication business“), der Gegenkultur der 1960er Jahre („young People Like Us deserted Us for the style of their own generation“ – die Großschreibung signalisiert hier, dass York einen stereotypen Sloane Ranger ventriloquisiert) und der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, in der “the Ranger’s British amateurism“ dafür sorgt, dass sie ihre Jobs als Sekretärinnen in Banken, Gallerien, Auktionshäusern, etc. verlieren. York parallelisiert dies mit der idealtypischen Sloane Biografie: einer Ausbildung an einem secretarial college und/oder Cordon Bleu Kurs (keine Universität!), gefolgt von Anstellungen in bestimmten respektablen Londoner Unternehmen und Agenturen, einer standesgemäßen Heirat, woraufhin der Sloane Ranger mit seinem Mann („She finds him, a landowning farmer in Cheshire, who trades in his racehorses to marry her“) aufs Land oder einen anderen Londoner Postcode zieht (außerhalb SW) und damit sein „frontier posting“ antritt. Als allwissender Erzähler kombiniert York hyperspezifische Details und selbstgewisse Generalisierungen zu einem humoristischen Porträt und Schablone für die Leser:innen.

Als hervorstechendes Indiz benennt York das Hermès-Tuch, welches in Kombination mit anderen Marken (insb. Gucci, Barbour) teil einer ‚Uniform‘ wird, die einen bestimmten ‚Stil‘ indiziert und darüber einen ganzen Lifestyle. Die Metapher der Kleidung der Sloane Ranger als Uniform, (ausgeweitet in „the quartermaster’s store of the Sloane Rangers: the Hermès store in Harrods“; “known by other regiments as the Headscarf Brigade”; “the girl’s Sandhursts”, der “frontier” in London, etc.) zieht sich durch den gesamten Text und erfüllt zwei Funktionen: Sie verwandelt Modeaccessoires zu semiotisch eindeutigen Abzeichen, unterstreicht also den Status des Hermès-Tuchs als Marker einer Menschen-Kategorie. Das angelagerte semantische Feld positioniert den Sloane Ranger zweitens in einem historischen Moment, der ansonsten weitestgehend stumm bleibt: Der Sloane Ranger verkörpert nicht nur einen Lifestyle, der auf Vorannahmen zu Gender, Klasse und Race aufsetzt, sondern wird von York auch so erzählt, dass er an die postimperiale Verhandlung von Britishness anschließt und eine nostalgische Umdeutung markiert. 


[1] https://www.theguardian.com/fashion/2020/nov/26/piecrusts-and-pearls-how-a-young-diana-spread-the-sloane-ranger-look

[2] Zusammengesetzt aus Sloane Square, einem Platz in West-London und Lone Ranger, einer ikonischen Figur der US-amerikanischen Populärkultur der Nachkriegsjahre.

[3] https://unbound.com/books/how-the-world-works/


Ray Petri’s “Killer”-Sequence in The Face (March 1985): Ambiguity and Performance

Sabina Fazli (Postdoc)/Oliver Scheiding (PI)

TP 06 Kuratierte Körper

10.01.2022

The cover of the Face issue of March 1985 has become iconic in magazine and design circles as well as oft-cited in visual and fashion histories of the 1980s. It was shot by Jamie Morgan and styled by Ray Petri. Their collaboration with other stylists and artists in the ‘Buffalo collective’ introduced a new visual language to fashion photography that began with their work for The Face. The cover image is part of the “Killer”-series that continues in the magazine on four consecutive spreads. We argue that the fashion sequence ambiguates differences on various axes of human differentiation, deliberately creating “a sense of confusion” (Mort 54)[1] that undercuts notions of congruent identity performances. Rather, the photographs stage ambiguous confrontations that include, but go beyond, gender and race. The cover image, for instance, highlights age: The young white boy’s soft features (identified as “Felix” in the fashion text) are juxtaposed with the printed word “killer,” which looks like it has been torn out of a tabloid, and the Face-coverline announcing the sequence’s title, “Hard.” Felix’s clothes are reminiscent of formal menswear which is, however, inflected by 30s and 40s film noir, an effect that is amplified by the black and white photography throughout the sequence, and Jamaican street wear. Film noir’s male leads are generally morally ambiguous hardboiled detectives, as far removed from childlike innocence as can be. 

The feature in the magazine opens with a page of text (paired, on the opposite page, with a half-body shot of Felix) starting with the word from the coverline, “Hard”, which is repeated in three lines followed by a quotation attributed to Buffalo Bill. The text on the left works like an associative gloss to the image on the right and takes up the model’s young age: “Hard is what you will turn out to be” suggests the theme of growing up and places this in the urban environment (“looks from every corner”). The quotation attributed to Buffalo Bill reinforces the model’s confrontational pose bracing for the inevitable challenge predicted in the text. It also evokes the 1973 film The Harder They Come[2] which inspired some of the fashion and styles (cp. Simon’s hat in the second spread). Facing the viewer, Felix is pointing his gloved, beringed fist at them. As the cover model and on the first photograph in the series, Felix works as a kind of guide, leading the reader into the series, with his portrait shots successively zooming out from his face to shots of his upper body. 

In the following spread, Simon and Felix are combined on pages that are dominated by Simon’s brooding face on the left-hand side that seems to be the focus of Felix’s attention on the right in a dyptich-like orchestration of gazes. Pinned to the models’ lapels and Felix’s hat, torn-out newspaper images of muscular male bodies and a headline reading “outrage” take up the theme introduced on the cover in the “killer” snippet. Simon, a black(?)/racially ambiguous model is photographed in a way that appears ‘feminine’: he is not directly looking at the reader and the stark lighting emphasizes his wistful, withdrawn look and handsome features. These poses are repeated in the following spread by two androgynous-looking women, a parallel that is emphasized by the presence of white scarves, “Pim” (on the right) wearing Felix’s Tuxedo jacket, and the direction of the models’ gazes: Pim is facing the opposite page on which “Lynsey” is looking straight at the viewer. They, too, have torn-out emblems of masculinity pinned to their clothes (a profile shot of a man dangling a joint from his mouth and the black bodybuilder still pinned to the jacket previously worn by Felix). In the last spread, two images of Simon show him in frontal and profile shots with slightly more casual clothes (open collar, hat pushed back). Instead of torn-out print, he is wearing a brooch of an Indian headdress on his hat and a tattoo on his cheek depicting a native American dance shield which reference the beginning of the sequence: The text introducing the ‘buffalo’ as an image of toughness, and the quotation by Buffalo Bill.

In the sequence’s combination of text and images, the qualities of toughness and self-assertion in a hostile environment are detached from the adult masculine body and may be worn by Others in different combinations and styles. The hostile environment consists of two overlapping spaces: the (postcolonial) city and the frontier, however, neither are made explicit in the images’ background which, instead suggests a professionally lit studio devoid of any identifying features but not unlike classic Hollywood studio photographs of 30s and 40s film stars. (The word ‘Hollywood,’ belonging to another coverline, sits on the brim of Felix’s hat on the cover.)

“The Harder They Come,” in turn, evokes post-independence Jamaica and the struggles of the eponymous movie’s protagonist in Kingston. Another contended space is opened up by the torn-out images that suggest mass-mediated discourses of hegemonic masculinity in bodies and affects (the aggression of “killer” and “outrage”). The snippets are assembled and turned against their original meaning in a zine-like montage that juxtaposes them with alternative versions of toughness. Ultimately, this juxtaposition highlights performance, a theme already introduced in the text: William Cody became famous for selling a cliched version of the Wild West as a show of frontier heroics, including his own character of Buffalo Bill. 

Another level of ambiguity is introduced through the text: In later interviews, Ray Petri acknowledged that his use of ‘hard’ and ‘killer’ was inspired by Jamaican slang where the words express approval of a particularly sharp style. These connotations privilege marginal meanings in the same way that Petri’s casting deliberately excludes the conventional model of menswear, a white adult male. Instead, age (young), gender (androgynous), and race (black) are explored through fashion photography that engages with the media propagating hegemonic images of male toughness, the cinema, and the mainstream press. Toughness here is shaped and lived in the streets of the city (where Petri cast his models) which is metaphorically linked to frontier wilderness. The language establishing this image is, however, not metropolitan but inflected by the geographical and social/cultural periphery of Jamaica and its diaspora. The self-referential use of media images (torn-out snippets) as well as the context of the fashion plate frame these images as fundamentally provisional performance highlighting their artificiality and stagedness. Axes of differentiation thus organize bodies, media, and space, either ambiguating meanings or revaluating categories in an aleatory combination of mimicry and mockery. This heightens the sense of ambiguity as the potentially stabilizing frame of the fashion series is itself modified through photography citing black and white 30s Hollywood and appearing in The Face, which was at the time considered a highly innovative and experimental outlet. Rather than performing a new masculinity, the series celebrates ambiguity on different levels and in different registers.


[1] Frank Mort focuses on the homosocial organization of the images, based on knowing gazes exchanged between men, including the reader (59). Overall, Mort follows the development of a consumer market targeting men as fashion and style conscious target group.

[2] The title song is “The harder they come, the harder they fall”. The film was celebrated as a postcolonial Midnights Movie.


Indizierung im Kontext von Marketing und Lifestyle: Die Glamour Shopping Card als „Ausweis“

Sabina Fazli (Postdoc)/Oliver Scheiding (PI)

TP 06 Kuratierte Körper

12.06.2023

Beim Grenzübertritt ist der Personalausweis oder Reisepasses ein materieller Marker, der nationale Zugehörigkeit beweist und damit bestimmte Mobilitätsprivilegien festschreibt. Setting und Gesten des Kontrollierens sind an diesem Ort standardisiert und beides unterliegt sichtbarer und unsichtbarer Überwachung (Videoüberwachung und Polizist:innen aber auch andere Reisende in der Schlange). Das Scannen des Ausweisdokuments greift auf Datensets zu, die die Ausweisführende selbst nicht einsehen kann. Gleichzeitig wird sie zur Repräsentant:in des Landes, welches ihr Ausweispapier ausgestellt hat,[1] das häufig bereits an der Farbe gut erkennbar ist. Grenzübertritte an Flughäfen werden zunehmend automatisiert und optimieren damit einen Prozess weiter, der von vornherein durch wortlose und routinisierte Kommunikation geprägt ist. Eine ähnliche Textur weisen Konsumräume auf: Laut Augé ähneln sich „spaces formed in relation to certain ends (transport, transit, commerce, leisure),” da hier Kund:innen und Reisende beim Betreten oder Verlassen einer funktionalen Transitumgebung ihre ‚Unschuld beweisen‘ müssen.[2] Während am Flughafen der Reisepass Identität und Nationalität bestimmt, zeigen sich Kund:innen an der Einzelhandelskasse als solvente Berechtigte, wenn das Lesegerät ihre Geldkarte akzeptiert. In beiden Situationen kommunizieren die Kund:innen und Reisende zumeist routiniert wortlos durch eingeübte Gesten, die der Identitätsfeststellung dienen (durch Pass oder Geldkarte und Kundenkarte). Auch das ‚Ausweisen‘ an der Kasse geschieht in einem überwachten Raum (Videoüberwachung und Kaufhausdetektiv:innen aber auch andere Kund:innen in der Schlange). Eine zentrale Rolle spielt in beiden Szenen das Dokument, das den Ein- bzw. Austritt aus dem überwachten Raum erlaubt. Für Einzelhandelskund:innen tritt neben die Geldkarte in der Bezahlsituation seit den 1980er/1990er Jahren[3] optional die Kundenkarte, die von bestimmten Handelsketten ausgestellt wird und deren Logos trägt (z. Bsp. Payback-Karten, mit REWE oder Alnatura-Logos, Tesco Club Card, etc.). Während sie Kund:innen exklusive Rabatte gewähren, bieten sie Unternehmen die Möglichkeit, über gesammelte Daten und Kaufanreize auf den Pool der Kartenbesitzer:innen einzuwirken.[4] Wie der Ausweis an der Grenze haben Kredit- aber auch Kundenkarten eine datafizierte Rückseite, die der Träger:in nicht zugänglich ist. 

Neben diesen Karten, die von den Einzelhändlern bzw. ihren Zusammenschlüssen ausgegeben werden, existieren Kundenkarten, die auf eine Mitgliedschaft verweisen und ebenfalls beim Bezahlen ins Spiel kommen. Darunter fällt die „Shopping Card“ der deutschen Ausgabe der Mode- und Lifestylezeitschrift Glamour,[5] die während der „Glamour Shopping Week“ (zwei- bis viermal im Jahr) Rabatte bei Einzelhändlern gewährt, die an dem Programm teilnehmen. Leser:innen kaufen die Karte mit der Zeitschriftenausgabe des jeweiligen Monats (die häufig schnell vergriffen ist), in der sie auf das Titelblatt geklebt ist (Abb. 1).[6] In der Zeitschrift sind die teilnehmenden Läden gelistet, die auch durch Schaufensterwerbung im Stadtbild auf sich aufmerksam machen. 

Auch wenn das Design der Karte bei jeder Shopping Week leicht variiert, dominiert immer derselbe hyperfeminine pinke Farbton.[7] Sie ist aus Plastik, entspricht wie andere Ausweise dem international normierten Format ID-1[8] und passt in die entsprechenden Fächer eines Portemonnaies oder Kartenhalters. Die Karte muss unterschrieben und beim Einkauf vorgezeigt werden, um den Rabatt zu erhalten.[9]

An der Kasse identifiziert die Karte die Käuferin nicht nur als rabattberechtigt, sondern auch als Mitglied der „GLAMOUR-Community“.[10] Dieses Ausweisen als Glamour-Leser:in ist durch die auffällige Farbe der Karte auch für Umstehende in der Bezahlsituation sichtbar.[11]

Wie andere Marken auch, stehen Zeitschriften als kommerziell vorformatierte Identitätsmarker und diakritische Zeichen für das Selfing der Leser:innen zur Verfügung. Die Glamour Shopping Card verweist also auf die ‚imagined community‘ modeaffiner Leser:innen und verwandelt sie temporär sichtbar in Mitglieder einer „exclusive consumer community,“ „unique and distinguished members of their peer group.“[12] Unter dem Schirm der Zeitschriftenidentität macht die Karte dies in der Situation des Einkaufs sichtbar – sie funktioniert „quasi als Ausweis“.[13] Es handelt sich um eine Lifestyle-Mikropraktik, die eine entdramatisierte Form des Ausweisens im Kontext von Konsum in den Alltag einführt. Dies geschieht in einer dezidiert anderen Sinnschicht als nationale Ausweisdokumente. Allerdings ähneln Kundenkarten diesen Dokumenten absichtlich, betreiben also Mimikry in Format und Haptik, da die Betreiber ihre Kundenkarten möglichst im Umfeld wichtiger(er) Dokumente im Portemonnaie platzieren wollen.[14]


[1] John C. Torpey: The invention of the passport. Surveillance, citizenship, and the state. Cambridge 2000, S. 160.

[2] Marc Augé: Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. London 1995, S. 94.

[3] Vorläufer der Kundenkarte sind unterschiedliche Formen von Coupons (z.B. in Zeitschriften oder Prospekten) und Sammelmarken (z.B. auf Verpackungen, mit entsprechenden Büchern zum Einkleben), deren Geschichte mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, vgl. Nada Elnahla/Leighann C. Neilson: „The history of retail loyalty programs in North America“. In: Joanne McNeish (Hg.): Proceedings of the 20th Biennial Conference on Historical Analysis and Research in Marketing (CHARM) 2021, S. 92–95.

[4] Vgl. Sami Coll: „Consumption as biopower: Governing bodies with loyalty cards“. In: Journal of Consumer Culture 13 (2013), S. 201–220

[5] Das Magazin wurde 1931 in den USA gegründet und gehört zum Verlag Condé Nast. Glamour unterhält nationale Ausgaben in vielen europäischen Ländern sowie in Südafrika und Mexiko; seit 2001 existiert auch eine deutsche Glamour, die allerdings nicht mehr monatlich sondern mittlerweile nur noch vierteljährlich erscheint.

[6] „Die GLAMOUR Shopping-Week ist die größte Einzelhandelskooperation in der deutschsprachigen Zeitschriftenlandschaft und versetzt Modefans viermal jährlich für eine Woche ins Shopping-Fieber. Gegen Vorlage der GLAMOUR Shopping-Card (erhältlich über die jeweilige GLAMOUR-Ausgabe und die GLAMOUR App) erhalten Leser:innen und User:innen exklusive Vorteile bei den teilnehmenden Partnermarken.“ (https://www.condenast.de/de/brand/glamour)

[7] 2017 wurde die Shopping Week-Ausgabe der Glamour zum ersten Mal im Doppelpack mit der GQ verkauft sowie mit zwei Shopping Cards (für Sie und Ihn, im selben Design). Dies wurde 2022 wiederholt.

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/ISO/IEC_7810

[9] Mittlerweile gibt es auch die Möglichkeit, mit der Kartennummer eine App freizuschalten, die als Rabattkarte dient.

[10] https://www.condenast.de/de/brand/glamour

[11] Eine Interviewstudie zu den Glamour Shopping Days in Ungarn spricht dies als Anlass für Interaktionen zwischen Käuferinnen an, die auch zu Kooperation führt, z.B. zum Aufteilen von Einkäufen, um den höchstmöglichen Rabatt zu erzielen. Vgl.: Zita Kelemen/ Péter Nagy/ Ildikó Kemény: „How to Transfer a Coupon-Based Event into a Hedonic Shopping Experience? Retail Branding Implications Based on the Glamour Shopping Days“. In: Society and Economy 38 (2016), S. 219–238, hier S. 226. 

[12] Ibid., S. 127.

[13] Ulrich Dirk Frey: „Shopper-Marketing: Nationaler und internationaler Status“. In: Ulrich Dirk Frey/Gabriele Hunstiger/Peter Dräger (Hg.): Shopper-Marketing. Mit Shopper Insights zu effektiver Markenführung bis an den POS. Wiesbaden 2011, S. 35-65, hier 51.

[14] Ralph T. Kreutzer: „Erfolgreiches Dialog-Marketing im Einzelhandel“. In: Hans-Christian Riekhof (Hg.): Retail BusinessPerspektiven, Strategien, Erfolgsmuster. Mit Fallstudien und Praxisbeispielen von Aldi, Budnikowsky, Dell, Görtz, Hugo Boss, Keen On fashion, Kiehl´s, Lush, Otto Group, Sport Scheck, Takko. Dordrecht 2013, S. 185–225, hier S. 222.


Kategorisieren wie auf Facebook: (Un)Sichtbarkeit im Print-Fotomagazin Der Greif(2019)

Sabina Fazli (Postdoc)/Oliver Scheiding (PI)

TP 06 Kuratierte Körper

18.12.2023

Beschreibung: Der Greif ist ein jährlich erscheinendes Fotografie-Magazin aus München. Seit der elften Ausgabe lädt es Gäste dazu ein, jeweils ein Heft nach ihren Vorstellungen zu kuratieren. 2019 waren dies Adam Broomberg und Oliver Chanarin, zwei Künstler aus London. Sie starteten einen Call, der zur Einreichung von Aufnahmen aufforderte, die die Fotograf:innen selbst nicht auf ihren Social Media-Seiten veröffentlichen würden, da sie zu intim, langweilig, grausam, politisch oder subversiv wären. Die für das zwölfte Heft mit dem Titel „Blame the Algorithm“ ausgewählten Bilder setzten Broomberg und Chanarin einem zweiten Selektionsprozess aus: Sie legten die Fotos einem ehemaligen Facebook-Moderator vor, der sie nach den Regeln der Plattform sortierte, und zwar danach, ob sie online gelöscht werden müssten oder nicht.

Diese Sortierung übertrugen Broomberg und Chanarin dann in die Anordnung der Aufnahmen auf der Seite. Auf einer Doppelseite stehen sich immer zwei Fotografien gegenüber, die jeweils mit ‚good‘ und ‚bad‘ überschrieben sind (s. Anhang). Dabei steht, je nach Leserichtung, eine Abbildung auf dem Kopf. Das Heft hat kein Backcover sondern zwei Titelblätter. Startet man mit dem Titelbild der androgynen POC, die sich mit geöffneten Augen der Kamera zuwendet, steht auf den Doppelseiten jeweils links das ‚schlechte‘ Bild richtig herum und gegenüber, auf der rechten Seite, das ‚gute‘ Bild verkehrt herum. Das Cover, das die entgegengesetzte Leserichtung einleitet, zeigt eine weiße Frau, mit geschlossenen Augen, nacktem Oberkörper und sichtbaren Brustwarzen. Beginnen Leser:innen mit diesem Cover, so stehen die ‚guten‘ Bilder richtig herum ausgerichtet auf der linken Seite. Dieses Titelbild ruft die Diskussion auf, die das Thema ‚content moderation‘ in den 2010er Jahren vermehrt in die Öffentlichkeit brachte: Facebook und Instagram ernteten ab 2014 lautstarke Kritik unter dem Hashtag #FreetheNipple sowie von ‚Lactivists‘ und Trans-Aktivist:innen, da die Plattformen Bilder und Videos, in denen weibliche Brustwarzen zu sehen waren, löschen ließen.[1]

Die allermeisten Fotografien zeigen menschliche, zumeist nackte (vereinzelt auch leblose) Körper, Körperteile und/oder Körperflüssigkeiten in oft sexuellen, medizinischen und gewaltvollen Kontexten. Auf einigen Doppelseiten sind Körper(teilen) Aufnahmen von Objekten gegenübergestellt, die einem alltäglichen Kontext entstammen, durch diese Kombination aber sexuell aufgeladen werden (z.B. Spielzeugflugzeuge als phallisch, 14good/32bad).[2] Die Zusammenstellung der jeweils zwei Aufnahmen auf den Doppelseiten insinuiert Ähnlichkeiten und visuelle Echos. Oft lassen sich ein gemeinsames Thema (z.B. Körper und ihre Spiegelachsen, 34good/12bad), ähnliche Posen (liegende Körper, 25good/21bad) oder Formen (‚hängend‘, 12good/34bad) erkennen, die die Aufnahmen assoziativ zu einem Paar machen. 

Der Text unter den Fotos besteht aus Aussagen des Moderators. Er beschreibt einen spezifischen Blick, den er bei der Arbeit einnimmt und der das Bild zerlegt: “You don’t see anything anymore. What you see is… pixels, words and just a part of a picture. You don’t see the whole picture or the whole video anymore. You search for the crucial point of the comment or picture that allows you to move on” (32bad). In den Zitaten kommt das ausbeuterische Arbeitsverhältnis zur Sprache, in dem die Moderator:innen gehalten werden sowie der psychologische Ausnahmezustand, der durch das verstörende Material ausgelöst wird: „It was like a war zone.“ (17bad); “[the images] infiltrated my dreams, especially the beheadings and violence against animals. Child rape I only saw like 10 times… […]” (6bad). Die emotionale Abstumpfung beschreibt er als erniedrigend: „humans without feelings are nothing. Even animals have feelings“ (18good). Er berichtet über die Prozesse seiner Arbeit, die mit Maschinen verflochten ist: Ein Algorithmus wird so trainiert, dass er zu löschendes Material erkennt, das Menschen dann entfernen (32good) oder Freund:innen von Nutzer:innen benachrichtigt, die drohen, sich umzubringen (43bad). 

In der Lektüre ergeben sich so Beziehungen zwischen den Fotografien sowie in den Text-Bild-Zusammenstellungen. Durch die Anordnung auf der Seite tritt außerdem das Heft selbst in den Vordergrund: es kann jederzeit gewendet und die Leserichtung geändert werden. ‚Richtig‘ und ‚falsch,‘ bzw. ‚good‘ und ‚bad‘ sind so nicht nur Kategorien, die jedes Bild als Bewertung begleiten, sondern ändern sich je nach Leserichtung dynamisch. Eine Fotografie, die auf dem Kopf steht, erscheint im Lesefluss als ‚falsch‘, in der entgegengesetzten Leserichtung ändert sich diese Relation wieder. 

Aspekte der Humandifferenzierung

Good/bad: Binarität und Ambivalenz

Das binäre Paar good/bad macht absolute Kategorien auf, in die die Bilder sortiert sind. Die Bewertung good/bad entspricht den von Facebook zum Publikationszeitpunkt verfolgten Moderationsrichtlinien. ‚Good‘ bedeutet auf der digitalen Plattform Sichtbarkeit, ‚bad‘ kennzeichnet dagegen (vermeintlich) anstößiges, zu löschendes Material, also in der visuellen Ökonomie der Plattform die digitale Unsichtbarkeit. Nichtsdestotrotz bleibt es in der Printpublikation sichtbar.

Neben dieser plattformspezifischen Zensurpraktik kann ‚bad‘ auch als ‚böse‘ gelesen werden, der Gegensatz also eine allgemeinere moralische Bewertung darstellen, die sich mit den Facebook-Vorgaben u.U. beißt. In der Anordnung der Aufnahmen provozieren Broomberg und Chanarin die Interferenz dieser Bewertungsraster: die Sichtbarkeit weiblicher Brustwarzen macht eine Aufnahme automatisch ‚schlecht‘, auch wenn dieser Körper einem weitaus erschütternderen Bild gegenübersteht, das nicht gelöscht werden müsste.

Es kollidieren konzerneigene Standards mit diffuseren moralischen Vorstellungen. Die Binarität der Sortierung provoziert Ambivalenz.

Mensch/Algorithmus: Die Außengrenze

Das Heft macht die Entscheidungsinstanz der Kategorisierung sichtbar. Der ehemalige Moderator ist durch seine Aussagen als Akteur der Sortierung weitaus präsenter als der Algorithmus, der im Titel des Hefts erscheint. Die emotional abstumpfende Arbeit beschreibt der Moderator aber als dehumanisierend (18good), seinen Blick auf das Material als fragmentiert und effizient, wie eine Maschine. 

Bühne für Unterscheidungshandeln

Das Heft überträgt ein Unterscheidungsraster, das an digitale User-generierte Inhalte angelegt wird, auf vorselektierte künstlerische Einsendungen im Printmagazin. Dabei hebt Der Greif durch die Paarungen der Aufnahmen auf der Seite und die Seitengestaltung die Indizien und Kategorien hervor, die online unsichtbar bleiben. Mit den Aussagen des Moderators öffnet das Magazin die ‚black box‘ der Content-Moderation weiter. Der Schiedsrichter hinter dem Feed wird sichtbar und führt die Praxis seiner Arbeit vor.

Aus der Perspektive der Humandifferenzierung ist diese Rahmung des Blicks relevant: Der Moderator wendet ein Entscheidungsraster auf die Fotos an, das die Leser:innen nicht kennen. Für Leser:innen stellt sich auf jeder Doppelseite aufs Neue die Frage, warum das eine Foto ‚gut‘ und das andere ‚schlecht‘ ist. Bei der Suche nach Indizien imitieren sie den Blick des Moderators und bewerten die abgebildeten Körper nach den erahnten Richtlinien, die Facebook an Bildmaterial anlegt. Die Zeitschrift erlaubt es Leser:innen in diese Kategorisierungspraxis einzusteigen und den Blickwinkel des Moderators auf Körper zu übernehmen. Es ergibt sich eine retrospektive Spekulation über ein fertig sortiertes Ensemble, dessen Regeln nicht vollständig durchsichtig sind. Kategorisieren wird dadurch als Handlung sichtbar.


[1] Ursprünglich ging es um Ausschnitte aus Lina Escos Film Free the Nipple, die von Facebook gelöscht wurden. Vgl. https://www.theguardian.com/technology/2023/jan/17/free-the-nipple-meta-facebook-instagram

[2] Die vielen verstörenden Bilder veranlassten den Surprise-Abonnement-Service Stack dazu, Abonnent:innen zunächst zu fragen, ob sie das Heft tatsächlich erhalten möchten oder eine Alternative vorziehen.